Renato, es sind nun einige Monate vergangen, seit du hier angefangen hast: Was ist seither passiert?
Renato Moser: Das Projekt ist seit elf Monaten am Laufen und endet mit der Tagung im Oktober. Als Start des Projektes haben wir uns einen Überblick über den Bestand der Musikinstrumentensammlung in Bezug auf mögliche Verbindungen zu NS-verfolgungsbedingtem Entzug verschafft. Das sind 3500 Objekte, zu denen ich die Einträge der HMB-Datenbank mit den Eingangsbüchern und bei Bedarf mit weiteren Archivalien am Haus abgeglichen habe. Ein grosser Teil der Objekte kam erst nach 1945 ans Haus, diese bergen somit ein potenzielles Risiko. Als Abschluss dieser Etappe trafen wir eine Auswahl von 36 Instrumenten. Den Fokus legten wir bei der Selektion auf Streichinstrumente. Eines dieser Instrumente ist eine wertvolle Gagliano-Geige, die letztes Jahr neu ans Museum kam.
An allen dieser 36 Instrumente haben wir einen sogenannten «Erstcheck» gemacht. Dieser beinhaltet für jedes Objekt ausführliche Datenbank- und Literaturrecherchen, eine vertiefte Auswertung des Museumsarchivs und eine «Objektautopsie».
Datenbankrecherche bezieht sich nicht auf die Museumsdatenbank, sondern auf Online-Datenbanken, auf denen Suchmeldungen zu Objekten veröffentlicht werden. Ferner zählen Archiv- und Bibliotheksdatenbanken dazu, die viele digitalisierte Dokumente wie Auktionskataloge, Objektlisten oder alte Fotos zur Verfügung stellen.
Bei der Objektautopsie werden die Objekte auf Merkmale untersucht, die uns bei unseren Recherchen weiterhelfen könnten. Diese werden dokumentiert und dienen dazu, weitere Schritte zu planen. Aufgrund des hohen Zeitaufwandes und den beträchtlichen Kosten können gewisse Schritte nur an wenigen Instrumenten durchgeführt werden. So kann beispielsweise eine Dendrochronologie sehr hilfreich sein, ein Instrument genauer zu bestimmen was Alter und Entstehungsort betrifft oder eine Computertomographie hilft uns, den schlecht zu untersuchenden Innenraum einer Geige detailliert abzubilden. Beides sind jedoch Untersuchungen, welche extern gemacht und bezahlt werden müssen.
Das klingt vielfältig. Wie sieht euer Arbeitsalltag aktuell aus?
Renato Moser: Wir haben unser internes Archiv, was Informationen zu den Objekten betrifft, ausgeschöpft und alles angeschaut, was wir am Haus finden konnten. Jetzt geht es darum, Unterlagen in externen Archiven zu suchen. Im konkreten Fall der Gagliano-Geige geht es zum Beispiel um die Akten des Geigenhändlers, der unserer Donatorin die Geige verkauft hat. Wir schreiben also die betroffenen Archive an. In vielen Archiven sind wir darauf angewiesen, dass uns Depositäre erlaubt, die Unterlagen einzusehen. Das stellt sich öfter als gedacht als Hindernis heraus.
Isabel Münzner: Als Kuratorin für Musikinstrumente hier im Haus habe ich sehr viel mit dem laufenden Tagesgeschäft zu tun, aber ich unterstütze natürlich Renato, wo immer ich kann. Wir beide klären die jeweiligen Schritte im Projekt ab, machen gemeinsam die Objektautopsien oder organisieren die Tagung. Diese findet im Oktober statt und ist das ganz grosse Finale des Projekts.
Was macht diese Tagung so besonders?
Isabel Münzner: Das Besondere für uns ist, dass wir ein sehr grosses Interesse erzielen konnten. Wir haben im März den Call for Papers für die Tagung gestartet und waren sehr überrascht und erfreut, dass wir so spannende und vor allem wichtige Themen in den Einreichungen erhalten haben. Aufgrund des grossen Interesses haben wir uns dazu entschlossen, die Tagung auf zwei volle Tage auszudehnen, mussten aber dennoch einigen Bewerbungen absagen. Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet.
Eine besondere Freude war es auch, dass die neu in die Sammlung aufgenommene Geige von Nicolò Gagliano im Rahmen einer Concert-Lecture an der Tagung gespielt werden wird. Es ist eine absolute Seltenheit, dass ein Streichinstrument aus einer Museumssammlung gespielt werden kann. Denn ein Museum hat bekanntlich die Aufgabe, seine Objekte für die Ewigkeit zu bewahren. Das bedeutet aber auch, dass die Objekte vor äusseren Einflüssen geschützt werden müssen und die Instrumente nicht bespielt werden dürfen, damit sie keinen Schaden nehmen. Um die Gagliano-Geige zum Spielen freigeben zu können, waren detaillierte Abklärungen durch Fachleute und eine genaue Beschreibung der gewünschten minimalinvasiven Instandsetzung notwendig. So müssen beispielsweise der Steg, aber auch die Saiten zum Spielen ausgetauscht werden. Alle Veränderungen werden genau dokumentiert und nach dem Spiel wieder rückgängig gemacht. Für die Einrichtung der Geige konnten wir eine sehr erfahrene Geigenbauerin aus Basel gewinnen, die auch die Instrumente der Schola Cantorum Basiliensis betreut. Gespielt wird die Geige von einer erfahrenen Geigerin der Hochschule für Musik hier in Basel. In der Concert-Lecture soll die Geige dann klanglich vorgestellt werden. Es ist aber auch vorgesehen, dass über die Beziehung der Musikerin zum Instrument mit der Objektbiographie gesprochen wird. Das ist ein sehr spannender Aspekt, denn wie fühlt es sich an, ein Instrument zu spielen, das möglicherweise eine unschöne Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg mit sich trägt?
Welche Erfolge konnte das Projekt seither verzeichnen?
Renato Moser: Ein grosser Erfolg sind sicher die vielen Bewerbungen für die Tagung und die internationale Ausstrahlung unserer Arbeit. Wir hatten Bewerbungen aus ganz Europa und mehrere aus den USA. Das hat uns beide überrascht. Abgesehen davon ist es noch zu früh, um von grossen Erfolgen zu sprechen. Besonders, weil gerade mit der Archivrecherche ein wichtiger Teil der Forschung noch ausstehend ist. Als Erfolge können neue Hinweise oder Belege bezeichnet werden die wir in den Archiven zu finden hoffen. Ein grosser Dämpfer ist jeweils, wenn man Dossiers aus den unterschiedlichsten Gründen nicht konsultieren kann oder darf.
Gibt es Herausforderungen, die dich überrascht haben?
Isabel Münzner: Ich bin immer wieder erstaunt, wie komplex Provenienzforschung ist und wie lange es dauert, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das einzige, was erstaunlich schnell ging, war die Dendrochronologie, hier haben wir hochauflösende Fotos der Geigendecke per Mail an den Anbieter geschickt und innerhalb weniger Stunden hatten wir konkrete Antworten auf die Fragen, wie alt das Holz ist, aus welcher Region es stammt und ob es Referenzobjekte gibt. Aber schon das Aufgleisen der Archivrecherche, immer in der Hoffnung, wertvolle Informationen zu finden, ist extrem zeitaufwendig.
Renato Moser: Was mich überrascht hat ist, wie zeitintensiv die Objektautopsien sind. Ich komme aus der bildenden Kunst und habe mit Papierarbeiten und Gemälden gearbeitet. Da ging es ein bis zwei Stunden pro Objekt, je nach Grösse und Reichtum der Hinweise. Bei einem Streichinstrument ist man – wenn man es detailliert machen will – schnell sechs Stunden intensiv am Objekt.
Isabel Münzner: Und hast du dich auch gewundert, Renato, dass es so wenig Literatur zu diesem Thema gibt? Sind wir auf dem Weg, die Pionierarbeit zu leisten, die wir uns vorgenommen haben?
Renato Moser: Ich würde sagen Ja. Ich habe letzte Woche im Rahmen des Arbeitskreises Provenienzforschung die Objektautopsie präsentiert und musste feststellen, dass das in diesem Ausmass niemand macht. In Österreich und vermutlich auch in Deutschland ist die Ausgangslage eine ganz andere: Da gibt es sehr viele Unterlagen zu den Beschlagnahmungen. Ich gehe davon aus, dass die Objekte auch deshalb untersucht werden, weil bekannt ist, dass sie eine problematische Geschichte haben. Da kann die Sammlung mit Hilfe solcher Archivalien durchgeschaut werden. Wir haben eine andere Ausgangslage: Wir haben teilweise Instrumente, von denen wir wissen, wer sie uns geschenkt hat. Wir wissen oft nicht, wie sie zu den Donator:innen gekommen sind. Unser einziger Zugang ist dann das Instrument. Wir müssen das Instrument anschauen, um nachvollziehen zu können, wie dieses zum letzten Eigentümer gekommen ist.
Was sind die nächsten Schritte in diesem Prozess?
Renato Moser: Die nächsten Schritte sind die Archivbesuche. Wir sichten grosse Mengen Archivalien. Wenn sich neue Hinweise finden, verfolgen wir diese. Wir hoffen auf grosse Überraschungen. Einer der letzten Schritte ist dann das Zusammenführen dieser Erkenntnisse zu einem Bericht. Das Projekt dauert bis Ende September 2024. Zu jedem untersuchten Objekt wird es dann einen ausführlichen Bericht geben. Dazu wird der Forschungsstand dokumentiert und mögliche weitere Forschungsansätze erfasst. Wir sind noch nicht im Endspurt, aber biegen auf der Zielgerade ein.
Isabel Münzner: Bezüglich der Gagliano-Geige steht Ende Juni die erwähnte Computertomographie an. Danach müssen wir uns überlegen, wie wir diese Geige und das Thema Provenienzforschung auch in Zukunft im Musikmuseum aufgreifen können.
Was wir über die Gagliano-Geige herausgefunden haben und wie es mit ihr weitergeht, erzählen wir in Kürze an dieser Stelle.