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Generalinventur

Globale Katastrophen im Hosentaschenformat

«Das Jahr ohne Sommer» nannte man das Jahr 1816. Geprägt war es durch globale Wetterkatastrophen, darauffolgende Ernteeinbussen, explosionsartige Preissteigerungen und Hungersnöte.

Der sogenannte Stettnersche Hungertaler, nicht viel grösser als ein heutiges Fünf-Franken-Stück, erinnert bildhaft an diese katastrophalen Ereignisse. Dabei versteckt sich im Inneren der zweiteiligen Steckmedaille eine überraschend bunte Farbenwelt, die uns auch heute noch eindrücklich vor der Kraft der Natur mahnt.

Zum Beginn des 19. Jahrhunderts schuf der aus Nürnberg stammende königlich-bayerische Siegelschneider und Münzgraveur Johann Thomas Stettner (1785-1872) eine ganze Reihe formal ähnlicher Steckmedaillen und Schraubtaler zu verschiedenen Themen und Ereignissen. Unter anderem besitzt das Historische Museum Basel vier seiner sogenannten Hungertaler, die an die Ereignisse «im Jahr ohne Sommer» erinnern sollen.

1905.450.1-2. Johann Thomas Stettner, Steckmedaille auf die Hungerjahre 1816 und 1817, Zinn, um 1817, ca. 49,6 mm x 8 mm, 30.497 g

Auf seiner Vorderseite zeigt der Hungertaler eine von den Katastrophen des Jahres 1816 offenbar schwer getroffene Familie. Mit erhobenem Arm ruft der Vater verzweifelt aus, was in der Umschrift zu lesen ist: «Gros ist die Noth – O Herr erbarme dich». Die Rückseite zeigt die lange erhoffte Erlösung im darauffolgenden Sommer: Zwischen Kornfeldern überreicht ein junges Mädchen einem betenden Mann einen Ährenkranz als Symbol der reichen Ernte. Über ihnen schwebt ein Engel mit einer Kornähre und verkündet: «Erkenne[,] das[s] ein Gott ist».

Bunte Bilder erzählen von grossen Katastrophen

Durch ihre serielle Produktion unterscheiden sich die zinnernen Hungertaler äusserlich kaum voneinander. Doch öffnet man die zweiteilige Steckmedaille, so entspringt ihr ein Leporello aus acht runden Blättern mit Kupferstichen, deren Kolorierung immer leicht variiert und jedem Objekt einen individuellen Charakter gibt. Die Gestaltung wurde vom Kupferstecher und Landschaftsmaler Georg Adam (1784/85-1823) übernommen, der mittels farbiger Bilder und eindrücklichen Worten von den katastrophalen Ereignissen des Jahres 1816 sowie der grossen Dankbarkeit gegenüber Gott erzählt, als man im Jahr 1817 wieder eine gute Ernte einfahren konnte.

1905.450.1-2. Georg Adam, Kupferstiche auf die Hungerjahre 1816 und 1817, um 1817, ca. 45.2 mm
1. 1816. Fürchterlich waren die Verheerungen, welche im Jahr 1816. der Hagelschlag verbreitete. Jammernd standen Tausende, wie hier der Landmann mit seinem Weibe und seinem Knaben, vor den zerschlagenen Saaten, und vor den, durch den wilden Sturm, zerschmetterten Bäumen.
2. Furchtbar rollte der Donner über den Häuptern der Menschen; fast jede Wolke erzeugte vernichtende Blitze; auch hier nimmt er seinen Lauf auf eine friedliche Hütte; und angstvoll fliehen Menschen u. Vieh ob des gewaltigen Donners.
3. Der im Sommer dieses Jahres fast täglich niederströmende Regen schwelte die Gewässer zu einer ausserordentlichen Höhe an; und mit gerungenen Händen sahen Tausende, ihre Wohnungen und ihre Habe von dem gewaltigen Strome mit fortgerissen
4. Der kalte Regen im Sommer erzeugte das Schröcklichste was die Menschen treffen kann, einen allgemeinen Miswachs, und den aus ihm entspringenden Brodmangel. Aller Orten drangen die Menschen ungestüm vor die Wohnungen der Bäcker, u. jeder neue Morgen weckte zu jammervollen Klagen.
5. 1817. Der segnende Hauch des erbarmenden Gottes erweckte die neue Saat im Frühling des Jahres 1817. Mit preissenden Jubel eilte man hinaus in die göttliche Natur. Dankend schritten der Greiss, lächelnd der Jüngling u. die Jungfrau, durch die reichen Saaten, u. die unschuldigen Kindlein tanzten auf dem glänzenden Teppich der Erde den frohen Reihentanz.
6. Gross war die Noth, welche durch den Miswachs im vorigen Jahr, sich auch über den Viehstand verbreitet hatte; u. nur mit Mühe konnte man aller Orten von den Schlächtern das Fleisch erhalten. Das freudigste Ereigniss war es daher, als im Sommer dieses Jahres, die ausserordentlichste Futter-Ernte, auch dieser Noth ein Ende machte.
7. Mit unaussprechlichen Entzücken sah man die volle Saat auf dem mütterlichen Schosse der Erde sich wiegen, und statt 2 Reihen von Körnern zeigten sich 4 auch bisweilen 6 Reihen; u. sogar oft auf einem Halm mehrere Aehren neben einander. Da führten die Väter ihre Kinder vor die reichen Saaten; u. lehrten ihnen wie gross die Gnade des Hochsten sey.
8. Die Einfuhr des ersten Erntewagens feyerten in diesem Jahre die Bewohner der Städte und Dörfer mit namenloser Wonne. Die Ermahnungen würdiger Geistlicher stimmten die Menschen zum Vertrauen auf Gottes heilige Führsehung. Überall erscholl aus bewegte Seele: Nun danket alle Gott!

Die Ursache für das gesteigerte Aufkommen von Naturkatastrophen im Jahr 1816 war den Menschen lange unbekannt und so glaubten sie, dass Gott sie für ihre Sünden strafen wollte. Umso dankbarer war man, als sich im Laufe des darauffolgenden Jahres die Zustände wieder normalisierten und die Ernte dank der wiedererlangten göttlichen Gnade noch grösser als sonst auszufallen schien.

Ein Vulkanausbruch verändert das Weltklima

Erst 1920 konnte der Amerikaner William Jackson Humphreys (1862-1949) diese vor allem für Mitteleuropa und den Osten von Nordamerika dokumentieren klimatischen Veränderungen, auf den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa (heutiges Indonesien) im April 1815 zurückführen. Durch diese bis heute grösste von Menschen dokumentierte Eruption eines Vulkans sowie darauffolgende Flutwellen, Hungersnöte und Krankheiten starb auf Sumbawa und den Nachbarinseln ein Grossteil der Bevölkerung. Zudem gelangte beim Ausbruch eine grosse Menge Staubteilchen in die Atmosphäre, von wo aus sie sich über den gesamten Erdball verteilen konnte. Die Sonneneinstrahlung wurde so stark vermindert, dass es zu einer dramatischen Abkühlung des Weltklimas kam. Von diesen Auswirkungen sollen die Gebiete nördlich der Alpen besonders stark betroffen gewesen sein – so kam es im Jahr 1816 auch in der Schweiz immer wieder zu schweren Unwettern und Überschwemmungen sowie zu Schneefall im Flachland bis in den Sommer hinein. Grosse Ernteeinbussen waren die Folgen, die wiederum explosionsartige Preissteigerungen nach sich zogen.

1905.450.1-2. Beklebte Innenseiten der Steckmedaille: Gedächtnis-Tafel des Theuerungsjahres 1771 (links) und Preise für Getreide, Brot, Fleisch und anderen Produkten vom Oktober 1816 bis Juli 1817 (rechts)

Während uns die Bild-Text-Kombinationen des Leporellos auf emotionale Weise an das damalige Schicksal der Menschen und die darauffolgende Gnade Gottes erinnern soll, führen uns die an die Innenseiten der Medaille geklebte Tabellen die Ereignisse auch auf mathematisch-wirtschaftliche Weise vor Augen: aufgelistet werden die steigenden Preise verschiedenster Produkte vom Oktober 1816 bis zum Juli 1817. Ausserdem wird an das noch in Erinnerung gebliebene Teuerungsjahre 1771 verwiesen, als ähnliche klimatische Ereignisse ebenfalls zu steigenden Lebenskosten geführt hatten.

Globale Ereignisse; lokale Erinnerungskultur

Mittels solcher Preislisten konnten, die in Nürnberg seriell produzierten Hungertaler mit wenigen Handgriffen für eine Käuferschaft in anderen Regionen individuell angepasst werden. Auf die Innenseite der Etuideckel klebte man Tabellen mit den Preisen verschiedener Produkte für die Jahre 1816/1817 beispielsweise aus dem «Königreich Würtemberg» und «Basel».

1905.450.1-2. Etui des Stettnerschen Hungertalers mit aufgeklebten Preistabellen «Höchste Frucht- und Viktualienpreise in Basel vom Jahre 1816, bis zum Juli 1817» und «Höchste Fruchtpreise 1817 im Königreich Würtemberg», 607 x 621 x 146 mm (Etui geschlossen)

Zwar liessen die ersten guten Ernten die Preise langsam wieder sinken, doch offenbar wuchs der Wunsch nach Erinnerungsstücken und der Mahnung an diese Zeiten des Hungers und der Not. So schuf man auch andernorts Medaillen oder bewahrte Objekte  wie das Zweibatzenbrötchen auf. Noch heute scheinen diese Objekte, allen voran die kleinen, zunächst unscheinbar wirkenden Hungertaler nichts von ihrer Aktualität verloren zu haben, erinnern sie uns doch an die globale Vernetzung des Klimas und führen uns bildhaft die möglichen Folgen klimatischer Extremsituationen vor Augen.

8. Juli 2025 – Kerstin Busch

Kerstin Busch ist Mitarbeiterin der Generalinventur am Historischen Museum Basel. Sie hat Kunstgeschichte studiert und interessiert sich für Reproduktionsmedien und ihre Sammlungskontexte.

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