
«Das Jahr ohne Sommer» nannte man das Jahr 1816. Geprägt war es durch globale Wetterkatastrophen, darauffolgende Ernteeinbussen, explosionsartige Preissteigerungen und Hungersnöte.
Der sogenannte Stettnersche Hungertaler, nicht viel grösser als ein heutiges Fünf-Franken-Stück, erinnert bildhaft an diese katastrophalen Ereignisse. Dabei versteckt sich im Inneren der zweiteiligen Steckmedaille eine überraschend bunte Farbenwelt, die uns auch heute noch eindrücklich vor der Kraft der Natur mahnt.
Zum Beginn des 19. Jahrhunderts schuf der aus Nürnberg stammende königlich-bayerische Siegelschneider und Münzgraveur Johann Thomas Stettner (1785-1872) eine ganze Reihe formal ähnlicher Steckmedaillen und Schraubtaler zu verschiedenen Themen und Ereignissen. Unter anderem besitzt das Historische Museum Basel vier seiner sogenannten Hungertaler, die an die Ereignisse «im Jahr ohne Sommer» erinnern sollen.


Auf seiner Vorderseite zeigt der Hungertaler eine von den Katastrophen des Jahres 1816 offenbar schwer getroffene Familie. Mit erhobenem Arm ruft der Vater verzweifelt aus, was in der Umschrift zu lesen ist: «Gros ist die Noth – O Herr erbarme dich». Die Rückseite zeigt die lange erhoffte Erlösung im darauffolgenden Sommer: Zwischen Kornfeldern überreicht ein junges Mädchen einem betenden Mann einen Ährenkranz als Symbol der reichen Ernte. Über ihnen schwebt ein Engel mit einer Kornähre und verkündet: «Erkenne[,] das[s] ein Gott ist».
Durch ihre serielle Produktion unterscheiden sich die zinnernen Hungertaler äusserlich kaum voneinander. Doch öffnet man die zweiteilige Steckmedaille, so entspringt ihr ein Leporello aus acht runden Blättern mit Kupferstichen, deren Kolorierung immer leicht variiert und jedem Objekt einen individuellen Charakter gibt. Die Gestaltung wurde vom Kupferstecher und Landschaftsmaler Georg Adam (1784/85-1823) übernommen, der mittels farbiger Bilder und eindrücklichen Worten von den katastrophalen Ereignissen des Jahres 1816 sowie der grossen Dankbarkeit gegenüber Gott erzählt, als man im Jahr 1817 wieder eine gute Ernte einfahren konnte.
















Die Ursache für das gesteigerte Aufkommen von Naturkatastrophen im Jahr 1816 war den Menschen lange unbekannt und so glaubten sie, dass Gott sie für ihre Sünden strafen wollte. Umso dankbarer war man, als sich im Laufe des darauffolgenden Jahres die Zustände wieder normalisierten und die Ernte dank der wiedererlangten göttlichen Gnade noch grösser als sonst auszufallen schien.
Erst 1920 konnte der Amerikaner William Jackson Humphreys (1862-1949) diese vor allem für Mitteleuropa und den Osten von Nordamerika dokumentieren klimatischen Veränderungen, auf den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa (heutiges Indonesien) im April 1815 zurückführen. Durch diese bis heute grösste von Menschen dokumentierte Eruption eines Vulkans sowie darauffolgende Flutwellen, Hungersnöte und Krankheiten starb auf Sumbawa und den Nachbarinseln ein Grossteil der Bevölkerung. Zudem gelangte beim Ausbruch eine grosse Menge Staubteilchen in die Atmosphäre, von wo aus sie sich über den gesamten Erdball verteilen konnte. Die Sonneneinstrahlung wurde so stark vermindert, dass es zu einer dramatischen Abkühlung des Weltklimas kam. Von diesen Auswirkungen sollen die Gebiete nördlich der Alpen besonders stark betroffen gewesen sein – so kam es im Jahr 1816 auch in der Schweiz immer wieder zu schweren Unwettern und Überschwemmungen sowie zu Schneefall im Flachland bis in den Sommer hinein. Grosse Ernteeinbussen waren die Folgen, die wiederum explosionsartige Preissteigerungen nach sich zogen.


Während uns die Bild-Text-Kombinationen des Leporellos auf emotionale Weise an das damalige Schicksal der Menschen und die darauffolgende Gnade Gottes erinnern soll, führen uns die an die Innenseiten der Medaille geklebte Tabellen die Ereignisse auch auf mathematisch-wirtschaftliche Weise vor Augen: aufgelistet werden die steigenden Preise verschiedenster Produkte vom Oktober 1816 bis zum Juli 1817. Ausserdem wird an das noch in Erinnerung gebliebene Teuerungsjahre 1771 verwiesen, als ähnliche klimatische Ereignisse ebenfalls zu steigenden Lebenskosten geführt hatten.
Mittels solcher Preislisten konnten, die in Nürnberg seriell produzierten Hungertaler mit wenigen Handgriffen für eine Käuferschaft in anderen Regionen individuell angepasst werden. Auf die Innenseite der Etuideckel klebte man Tabellen mit den Preisen verschiedener Produkte für die Jahre 1816/1817 beispielsweise aus dem «Königreich Würtemberg» und «Basel».


Zwar liessen die ersten guten Ernten die Preise langsam wieder sinken, doch offenbar wuchs der Wunsch nach Erinnerungsstücken und der Mahnung an diese Zeiten des Hungers und der Not. So schuf man auch andernorts Medaillen oder bewahrte Objekte wie das Zweibatzenbrötchen auf. Noch heute scheinen diese Objekte, allen voran die kleinen, zunächst unscheinbar wirkenden Hungertaler nichts von ihrer Aktualität verloren zu haben, erinnern sie uns doch an die globale Vernetzung des Klimas und führen uns bildhaft die möglichen Folgen klimatischer Extremsituationen vor Augen.
Kerstin Busch ist Mitarbeiterin der Generalinventur am Historischen Museum Basel. Sie hat Kunstgeschichte studiert und interessiert sich für Reproduktionsmedien und ihre Sammlungskontexte.

Direktion & Verwaltung
Postfach | Steinenberg 4
CH-4001 Basel
Öffnungszeiten Sekretariat
08.30 – 12 | 13.30 – 17 Uhr
Empfang: +41 61 205 86 00
historisches.museum(at)bs.ch
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!